Textprobe:
Kapitel 5.5, Theorie-Praxis-Verbindung nach Cochran-Smith & Lytle:
Ein didaktisches Modell, das verschiedene Sichtweisen auf das professionelle Wissen und auf das Verhältnis von Theorie und Praxis im Zusammenhang mit dem Erwerb von Wissen beschreibt, findet sich bei Cochran-Smith & Lytle (1999). Dieses Modell unterscheidet zwischen „knowledge-for-practice“, „knowledge-in-practice“ und „knowledge-of-practice“. In der Wissenschaft wer-den diese Sichtweisen verschieden interpretiert. Messner & Reusser (2000) ver-wenden beispielsweise die Bezeichnungen „Wissen ÜBER die Praxis“, „Wissen IN bzw. AUS der Praxis“ und „Wissen FÜR die Praxis“.
Die Gestaltung der Videos orientiert sich besonders an der Sichtweise des „know-ledge-of-practice“, was sich in der Aufteilung der Videos in theoretische und praktische Wissensperspektiven widerspiegelt. Diese Perspektiven werden in den folgenden Abschnitten näher erläutert und durch Interpretationen von Messner & Reusser (2000) sowie Leuders et al. (2018) ergänzt.
5.5.1, Knowledge-for-practice:
Cochran-Smith & Lytle verstehen unter knowledge-for-practice „the knowledge teachers need to teach well is produced primarily by university-based researchers and scholars in various disciplines. This includes subject matter knowledge, edu-cational theories, and conceptual frameworks, as well as state-of-the-art strategies and effective practices for teaching a variety of content areas.“ (Cochran-Smith & Lytle, 1999, S. 254).
Diese Form des Wissens kann demnach als theoriegeleitetes Handlungswissen für die Unterrichtspraxis aufgefasst werden: „Here, knowledge for teaching consists primarily of what is commonly called „formal knowledge“, or the general theories and research-based findings (…).“ (Cochran-Smith & Lytle, 1999, S. 254).
Messner & Reusser ordnen diese Sichtweise dem „Wissen ÜBER die Praxis“ zu und verstehen darunter „explizit erworbenes (wissenschaftliches) Wissen aus ex-ternen Quellen als Basis für professionelles Handeln bzw. „berufliches Handeln (.) als Anwendung von Wissen“ (Messner & Reusser 2000, S. 283). Die beiden Autoren verweisen auf Grenzen dieser Form des Wissens:
„Dort, wo akademisch vermitteltes theoretisches Wissen, welches meist die Form allgemeinen und situationsunabhängigen Regel-wissens aufweist, sich sehr häufig als 'träges Wissen' erweist, wel-ches in der Praxis bzw. beim Handeln unter Druck (vgl. Wahl, 1991) nur selten spontan umgesetzt wird.“
Messner & Reusser, 2000, S. 282 Modelle und Vorstellungen über die Theorie-Praxis-Verbindung 137.
Darling-Hammond und Bransford beschreiben diese Form des berufsspezifischen Wissens als „Theory in practice, or the kind of knowledge teachers may need to rely upon in developing their practice.“ (Darling-Hammond & Bransford, 2005).
Radtke (1996) betont die Bedeutung eines fundierten praktischen Erfahrungswis-sens, um theoretisches Wissen mehrperspektivisch in die Unterrichtspraxis einzu-binden und regt an die Lehrerfortbildung als den entscheidenden Ort für die Aus-einandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu betrachten. Hier könne das spezifische Wesen wissenschaftlichen Wissens als Reflexions- und Deutungs-wissen besonders zur Geltung kommen.
In Fortbildungskontexten treffen Fachleute aufeinander, und im Gegensatz zur Grundausbildung besteht hier nicht die Gefahr, dass Wissenschaftler Probleme stellvertretend lösen. Stattdessen bietet sich die Möglichkeit, Probleme aus ver-schiedenen Perspektiven zu betrachten und alternative Lösungsansätze zu entwi-ckeln:
„Die Differenz zwischen wissenschaftlicher Theorie und der Theorie der Praxis wird fruchtbar gemacht. Der Wissen-schaftler stellt in diesem Prozess eine aus der Malerei be-kannte ‚kubistische Verfremdung’ der Wirklichkeit her, d.h. er versucht, einen Gegenstand gleichzeitig aus mehreren Per-spektiven zu beschreiben, also eine analytische Realität sui generis zu konstruieren.“ Radtke, 1996, S.250.
Der in diesem Buch vorgestellte Fortbildungsbaustein nutzt wissenschaftliches Wissen, um Lehrpersonen Differenzierungsmaßnahmen im Unterricht näherzu-bringen und anwendbare Kenntnisse zu vermitteln. Dieser Baustein basiert auf der Annahme, dass Forschungsergebnisse aus dem wissenschaftlichen Diskurs zur Entwicklung und Umsetzung von Differenzierungsstrategien im Unterricht genutzt werden können. Lehrer sollen dieses Wissen erwerben und in ihrer Un-terrichtspraxis anwenden.