Ausgangspunkt meiner Untersuchungen ist das umfangreiche
Werk des Sprachwissenschaftlers Heymann Steinthal,
der sich über einen Zeitraum von mehr als dreißig
Jahren um das Erbe der vergleichenden Sprachforschung
Wilhelm von Humboldts bemüht. Steinthal kämpft mit
großem Enthusiasmus, manchmal auch verbissen und
überreizt, aber zumeist in der Sache berechtigt, gegen
einen naturalistischen Reduktionismus in der Sprachtheorie.
Es gelingt ihm dabei, die ideologischen Prämissen
seiner Gegner freizulegen, die bereit sind, in ihrem
Streben nach einer Einheit der Natur und der Geschichte
auf die schöpferischen Kräfte des Individuums, auf seine
Spontaneität im Urteilsvermögen und seine spracherzeugende
Fähigkeit zu verzichten, ja diese zu denunzieren.
Steinthal kämpft mit allen Mitteln der wissenschaftlichen
Analyse und Rhetorik gegen die Tendenzen zur Neutralisierung
der sozio-kulturellen Gegensätze und für die
Ermöglichung der Vielfalt sprachlichen und kulturellen
Ausdrucks. Seine fundamentale Gedankenoperation impliziert
einen Perspektivenwechsel in der geschichtlichen
Analyse allgemein-menschlicher Phänomene. Statt auf
den Ursprung der Menschheit zu blicken und im Bann
dieser Fragestellung zu verharren, fordert er uns auf, alle
sozio-kulturellen Formen, darunter zuerst die Sprache, als
Erzeugnisse menschlicher Produktivität zu begreifen.
Nach Steinthals Ansicht ergibt sich nicht aus einer vorgegebenen
Natur der Sache, schon gar nicht derjenigen
des Menschen, was Menschen-möglich ist. In seinen
sprachtheoretischen Reflexionen skizziert Steinthal ein
Konzept der Bildung des Menschen vorrangig durch
Sprachtätigkeit, das eine anthropologische Prämisse
aufweist: Der Mensch ist nicht von seiner Herkunft her
bestimmt, sondern er zeichnet sich dadurch aus, dass er
wird, was er sich im Austausch mit der Welt erarbeitet.
Seine Zukunftsfähigkeit, seine prinzipielle 'Geöffnetheit'
für Anderes, Fremdes, noch nicht Seiendes macht ihn von
anderen Lebensformen unterscheidbar. […]
Der gemeinsame Nenner der sprach- und kulturtheoretischen
Reflexionen im deutsch-jüdischen Kontext ist,
dass wir Menschen uns in der Sprache in die soziale Welt
integrieren und zu uns selbst kommen. Der Optimismus
des 19. Jahrhunderts, der in der Ablösung des Menschen
von seiner sozialen Herkunftsbestimmung und Öffnung
für eine unbestimmte Zukunft die Bedingung für die
Humanisierung der Menschheit gesehen hat, hat seinen
Niederschlag in den genannten Analysen zur Sprache, zur
Entwicklung von Sprache und Vernunft, zum Gespräch,
zum Humor, zum Takt wie auch mit negativen Vorzeichen
in der fulminanten Sprachkritik gefunden. Überall geht es
um einen Kampf für die Freiheit des Individuums und um
ein Plädoyer für die Vielfalt menschlicher Ausdrucks- und
Lebensformen.
Das Ende dieser Traditionslinie wird markiert in der Theorie
durch den Siegeszug des Naturalismus in den Naturund
Kulturwissenschaften und in der Praxis durch die
ungeheuerlichen Konsequenzen der Biopolitiken, die das
Selbstbild unserer modernen Kultur erschüttert haben.
Dennoch ist es nicht gerechtfertigt, die Theoretiker eines
Humanisierungsprozesses der Menschheit im Licht der
von Deutschland ausgehenden Katastrophe des Humanen
nachträglich für naiv zu erklären. Die Sprach- und Kulturtheoretiker
des 19. Jahrhunderts konnten nur eine vage
Vorahnung davon haben, mit welcher Effizienz das folgende
Jahrhundert die Koordinaten eines vertrauten und
(selbst)verständlichen Umgangs mit Welt, die Prämissen
von Weltorientierung zerstören wird. Nahezu verzweifelt
ist Ernst Cassirers Versuch, sich dieser Einsicht zu versperren
und dafür die abendländische Geistesgeschichte
zur Abstützung seiner These, dass trotz aller Rückschläge
die Kulturentwicklung 'einem tieferen teleologischen
Grund' verpflichtet bleibt, heranzuziehen. […]
Um zu erkennen, was Humanität als Ideal kultureller Entwicklung
ist, müssen die theoretischen Konzepte einer Humanisierung
der Menschheit erörtert werden. Das ist eine
Aufgabe, der die folgenden Kapitel gewidmet sind. Gezeichnet
werden die Umrisse einer Theorie der modernen
Kultur, deren Leitlinien auch heute noch bedenkenswert
sind, weil sie dem Aufbau der geschichtlichen, sozio-kulturellen
Welt gewidmet sind – und in diesem konstruktiven
Zug Anhaltspunkte für ein gelingendes Zusammenleben
in einer ständig sich verändernden Welt geben.
(Aus der Einleitung)