1. Einleitung
Die Bevölkerung des Altkreises Tecklenburg wuchs zwischen 1750 und 1840 um rund 77,3 Prozent. Neuere Schätzungen gehen davon aus, dass die deutsche Bevölkerung im selben Zeitraum um rund 92 Prozent anstieg und sich das Bevölkerungswachstum in Norddeutschland, zu dem das Untersuchungsgebiet ebenfalls zu zählen ist, mit rund 91,6 Prozent auf dem gleichen Niveau bewegte. Die demografische Expansion im Untersuchungsgebiet war demnach zwar massiv, doch im europäischen und deutschen Kontext nicht außergewöhnlich; Tecklenburg hatte teil an einem gesamtdeutschen und gesamteuropäischen säkularen Phänomen.
Dieses Phänomen war Teil eines tiefgreifenden und vielschichtigen Transformationsprozesses, in dem sich in Europa der Übergang von einer traditionellen ländlichen zur modernen Industriegesellschaft vollzog. Der Prozess verlief keineswegs harmonisch: Er war u. a. gekennzeichnet durch Verteilungskonflikte, durch wiederholt auftretende Hungersnöte, durch die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in den Städten und vor allem auf dem Land sowie durch die massenhafte Auswanderung nach Übersee oder in aufstrebende industrielle Ballungszentren.
Für die Zeitgenossen waren diese Erscheinungen Ausdruck und Folge eines aus den Fugen geratenen Bevölkerungswachstums. Alle Erklärungsversuche, wie es dazu kommen konnte, und alle Lösungsvorschläge zu einer künftigen Vermeidbarkeit drehten sich im Kern um die Möglichkeiten zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Bevölkerung und Ressourcen oder allgemeiner: zwischen Demografie und Ökonomie. Die systematische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bevölkerungsvorgang, die Demografie und die Bevölkerungswissenschaft erlebten nicht zufällig in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Geburtsstunde. Die damals entwickelten Modellvorstellungen über die demo-ökonomischen Funktionszusammenhänge sind indes noch immer wirkungsmächtig. Dies gilt auch für die Darstellung der Tecklenburger Bevölkerungsentwicklung, wie noch zu zeigen ist.
Auch heute noch steht im Kern aller maßgeblichen Bevölkerungstheorien der Komplex der Beziehung zwischen Bevölkerung und Wirtschaft. Ein Problem dieser Theorien besteht jedoch darin, dass sie bisher nur selten systematisch mit empirischem Material konfrontiert wurden. Wo dies dennoch der Fall war, offenbarte sich oft eine "verwirrende" Abweichung von den postulierten Zusammenhängen. Die empirischen Studien zeigen nicht nur, dass die Beziehungen zwischen beiden Komponenten bedeutend komplexer waren, als es die Rezeption der theoretischen Modelle vermuten ließe, sie verweisen auch auf zwei weitere Sachverhalte: Zum einen konnten sich beide Komponenten bis zu einem gewissen Grad durchaus unabhängig voneinander entwickeln; zum anderen lässt sich der Bevölkerungsvorgang nicht ausschließlich auf ein Wechselspiel von Demografie und Ökonomie reduzieren, sondern er wurde von zahlreichen anderen - politischen, sozialen, kulturellen, medizinischen und umweltspezifischen - Faktoren beeinflusst, die u. U. wiederum eng miteinander verzahnt waren.
Erst durch die systematische Analyse dieses Beziehungsgeflechts lässt sich erhellen, weshalb das Bevölkerungswachstum regional und lokal durchaus unterschiedlich und keineswegs gleichmäßig verlief: So finden sich allein in Westfalen Regionen - ja selbst Dörfer wie noch im Verlauf dieser Studie gezeigt werden kann - mit hohen demografischen Wachstumsraten neben solchen mit stagnierender Gesamtbevölkerung, liegen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, trotz scheinbar ähnlicher Ausgangslage, vielfach industrialisierte Gebiete in unmittelbarer Nachbarschaft zu agrarischen oder sogar - wie im Falle Tecklenburgs - reagrarisierten Regionen.
Von dieser Position aus lässt sich argumentieren, dass es derzeit genug bevölkerungstheoretische Konzepte gibt, allein mangelt es an empirischen Studien,
die diese Konzepte kritisch überprüfen. Genau hier setzt die vorliegende Studie zur Tecklenburger Bevölkerungsentwicklung an.
Ziel dieser Studie ist es, die Bevölkerungsentwicklung Tecklenburgs vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Strukturwandels zu erklären. Dies soll in der Auseinandersetzung mit vorherrschenden Hypothesen zur Bevölkerungsentwicklung geschehen, die dadurch am Beispiel Tecklenburgs einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Insbesondere geht es dabei um die Diskussion der demografischen Implikationen des Protoindustrialisierungskonzepts und der Vorstellung von der Wirkungsweise des sogenannten "Stellenprinzips", einem zentralen Paradigma der kontinentaleuropäischen und insbesondere deutschen Bevölkerungsgeschichte. Die Arbeit wird zeigen, dass sich keine der postulierten Zusammenhänge für Tecklenburg empirisch nachweisen lassen. Eingeschränkt lässt sich dies auch für das eher beschreibende denn erklärende Modell der "demografischen Transition" feststellen.
Dies macht den Blick frei für eine Erweiterung der klassischen Modelle und die Berücksichtigung anderer Einflussfaktoren. Mit der systematischen Analyse der Effekte sozialer Schichtung und von Agrarinnovation wird mit dieser Studie Neuland betreten. Dies gilt auch für die Analyse des Einflusses von Wanderhandel und Hollandgang auf den Bevölkerungsprozess.
Insgesamt soll auf diese Weise nicht nur der Bevölkerungsvorgang in Tecklenburg verständlich werden. Es geht darüber hinaus um ein besseres Verständnis der vorindustriellen ländlichen Gesellschaft und ihrer Entwicklungsdynamik - und damit um ein besseres Verständnis von Bevölkerungsentwicklung überhaupt. Denn angesichts des Wachstums der Weltbevölkerung, großer Wanderungsbewegungen sowie Hungerkrisen einerseits und einem anhaltenden Geburtenrückgang in den entwickelten Industrienationen andererseits ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was Paare dazu bewegt, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen, hochaktuell.
Wie in vorindustrieller Zeit steht hier erneut die Frage nach den Möglichkeiten zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Menschenzahl und Ressourcen in vielfältigen Erscheinungsformen in der Diskussion, sei es beispielsweise durch Aufklärung über Verhütungsmaßnahmen, Zuwanderungsgesetze, Gentechnologie in der Landwirtschaft oder die Verbesserung der Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Die Sichtweise von Bevölkerungswachstum ist dabei überwiegend pessimistisch. Dazu laden sicherlich nicht nur die aktuellen Krisenphänomene ein, vielmehr zählt die fast instinktive Gleichsetzung von Bevölkerungswachstum und Elend zu den Spuren, die sich durch die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben.
Die Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsentwicklung zwischen 1750 und 1850 erscheint daher sinnvoll. Die Beschäftigung mit den historischen Vorgängen kann zu einer rationaleren Sichtweise demografischer Prozesse beitragen. Eine Erkenntnis könnte darin bestehen, dass eine Steuerung demografischer Prozesse vielleicht gar nicht nötig ist oder darin, dass eine solche Steuerung nicht gelingen kann, weil die Entscheidung zur Reproduktion durch Individuen und nicht durch Gesellschaften getroffen wird. Die Diskussion ist hier nach wie vor offen.