1 Einleitung
Thema und Methodik
Der Holocaust, der als "archetypical genocide" gesehen werden kann, markiert einen zentralen Punkt in der europäischen und zunehmend auch in der globalen Erinnerungskultur. Die Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen der nationalsozialistischen Verbrechen wird in vielen Ländern als Chance gesehen, aktuelle gesellschaftliche Probleme wie Rassismus, Vorurteile und Diskriminierung zu thematisieren oder die Gesellschaft für Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart zu sensibilisieren. Auch in Großbritannien und Deutschland nimmt der Holocaust einen zentralen Platz in der jeweiligen nationalen Erinnerungskultur ein. Beide Länder stehen vor der Herausforderung, mit dem gemeinsamen historischen Erbe umzugehen, die Geschichte für sich aufzuarbeiten und folgenden Generationen zu vermitteln. Großbritanniens nationale Identität wird hierbei geprägt von der Erinnerung an die Verteidigung der eigenen Freiheit, die für viele Briten bis heute als "finest hour" des Landes gilt, sowie durch die Tatsache, dass das Land Anlaufstelle für Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes war. Dem gegenüber steht Deutschland, das nicht nur von außen als "Land der Täter" wahrgenommen wurde und wird, sondern auch seine eigene nationale Identität ausdrücklich auf einer Gegenposition zu totalitärer Herrschaft gründete.
In beiden Ländern, die sich während des Zweiten Weltkrieges als Geg-ner gegenüberstanden, spielt heute die gesellschaftliche Auseinanderset-zung mit dem Holocaust eine wichtige Rolle und stellt zugleich einen der sensibelsten Aspekte der jeweiligen Gedenkkulturen dar. Im Hinblick auf die Vermittlung der historischen Hintergründe des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen kommt den Nationalmuseen für Geschichte hierbei eine zentrale Rolle zu. Sie haben die Aufgabe, ein nationales Bild der Vergangenheit zu repräsentieren, die Erinnerung an die historischen Geschehnisse wach zu halten und den folgenden Generationen die Geschichte nahezubringen, welche ihnen Zeitzeugen nicht mehr vermitteln können.
Im Folgenden soll anhand der Beispiele des Imperial War Museum (IWM) in London und des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin der Frage nachgegangen werden, mit welchen museumsspezifischen und didaktischen Methoden die Vermittlung der nationalsozialistischen Verbrechen in Großbritannien und Deutschland erfolgt und welche Ausstellungskonzeptionen und pädagogischen Konzepte sich dahinter verbergen. Angelehnt an den allgemeinen historischen Vergleich, bei dem die explizite und systematische Gegenüberstellung von zwei oder mehreren historischen Gesellschaften erfolgt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Prozesse der Annäherung und Auseinanderentwicklung zu erforschen, werden die Holocaust-Ausstellungen der beiden nationalen Geschichtsmuseen mittels eines individualisierenden sozialwissenschaftlichen Vergleichs untersucht. Hierbei geht es - ebenso wie im individualisierenden historischen Vergleich - in erster Linie darum, Unterschiede zwischen Gesellschaften und deren Entwicklungswegen nachzuverfolgen, wobei man im vorliegenden Fall von einem Vergleich auf Mikroebene sprechen kann, da ein Museumsvergleich, und insbesondere ein Ausstellungsvergleich, vorgenommen wird. Neben der Betrachtung von Unterschieden werden hierbei ebenso Gemeinsamkeiten zwischen den Untersuchungsge-genständen berücksichtigt, denn "der individualisierende Vergleich, dem es vor allem auf Unterschiede ankommt, [kann] ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit bei den verglichenen Fällen nicht auskommen", so der Historiker Hartmut Kaelble.
Im Zentrum der Betrachtung stehen die "Holocaust Exhibition", wel-che im Juni 2000 im IWM eröffnet wurde, und die Ausstellung "Holocaust - Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung", welche von Januar bis April 2002 im DHM gezeigt wurde. Ziel ist es, die musealen Darstellungen des Holocaust in Großbritannien und Deutschland vergleichend einander gegenüberzustellen und zu untersuchen, inwieweit in den Holocaust-Rezeptionen nationale oder europäische Perspektiven betont werden, insbesondere im Hinblick auf die Vermittlung des Holocaust als singulärem Ereignis mit universeller Bedeutung. Da es darum geht, sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede der jeweiligen Aspekte herauszuarbeiten, kann auch von einer makrokausalen Analyse gesprochen werden, sozusagen ein thematischer Spezialvergleich. Zugleich handelt es sich um einen analytischen Vergleich, da bestimmte gesellschaftliche Strukturen und Institutionen aus ihren historischen Voraussetzungen und Bedingungen heraus erklärt werden sollen. Dies scheint besonders vielversprechend, da die Geschichte des National-sozialismus und des Holocaust in Großbritannien und in Deutschland - trotz der sehr heterogenen historischen Ausgangspositionen - teilweise aus ähnlichen Intentionen heraus sowie mit gleichen Zielen und Methoden vermittelt wird. In beiden Ländern geht es sowohl im Schulunterricht als auch in den entsprechenden musealen Institutionen nicht nur darum, den nachfolgenden Generationen historisches Wissen näher zu bringen, son-dern die Jugendlichen, durch Bezugnahme auf die Geschichte, auf aktuelle gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Diktatur, Totalitarismus und Diskriminierung sowie mit der Verfolgung von Menschen aus religiösen, sozialen, politischen oder ethnischen Gründen, soll aufmerksam machen auf aktuelle Fragen der Demokratiebewahrung, der Toleranz und der Integration, also auf Fragen, mit denen sich sowohl Großbritannien als auch Deutschland heute mehr denn je konfrontiert sehen.
Stand der Forschung
Der wachsende zeitliche Abstand zu den historischen Ereignissen des Holocaust bringt die Notwendigkeit mit sich, dem zwangsläufigen Prozess des Vergessens zu einem Zeitpunkt entgegenzuwirken, an dem die Gene-ration der Zeitzeugen und der Überlebenden sich mit der Generation ab-löst, die keinen direkten Zugang mehr zur Zeit des Nationalsozialismus finden kann. Den Geschichtsmuseen kommt hier eine wichtige Bedeutung zu, denn erst die materielle Konkretheit der musealen Ausstellungsobjekte verleiht der Erinnerung Form und Struktur.
Seit der Mitte der neunziger Jahre wurden weltweit zahlreiche neue Gedenk- und Dokumentationsstätten, Museen sowie Ausstellungen eröffnet, die sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen befassen. Zu nennen sind unter anderem das 1993 eröffnete United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) im amerikanischen Washington D.C., das 1994 eröffnete Vancouver Holocaust Education Centre (VHEC) in Kanada, das 1995 eröffnete Beth Shalom (heute: The Holocaust Centre) im englischen Nottinghamshire, das 1996 eröffnete Holocaust Museum Houston im amerikanischen Texas, das 2002 gegründete Museo e Centro di Documentazione della Deportazione e Resistenza im italienischen Prato, das 2003 eröffnete Centre commémoratif de l'Holocauste à Montréal (MHMC) in Kanada, das 2004 eröffnete Holokauszt Emlékközpont (Budapest Holocaust Memorial Center) in Ungarn oder das Mémorial de la Shoah im französischen Paris sowie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, welche beide 2005 eröffnet wurden. Der Großteil dieser Institutionen widmet sich nicht nur der Erforschung, Darstellung und Vermittlung der historischen Hintergründe der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern setzt sich auch mit anderen historischen und zeitge-nössischen Menschenrechtsverletzungen und Völkermorden auseinander.
In Zusammenhang mit dieser Entwicklung fand und findet in der Ge-schichtswissenschaft, in der Museumspädagogik und in der Geschichtsdi-daktik eine intensive Auseinandersetzung damit statt, wie die Vermittlung der Hintergründe des Holocaust und weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfolgen kann, sowohl in der politischen Bildungsarbeit als auch in musealen Einrichtungen. Hierbei spielt seit einigen Jahren die ver-gleichende Untersuchung verschiedener nationaler Erinnerungsmechanis-men eine zunehmend wichtige Rolle, insbesondere vor dem Hintergrund einer Europäisierung und teilweise sogar einer Globalisierung des Holo-caust-Gedenkens im 21. Jahrhundert. Entsprechend wurden seit dem Ende der neunziger Jahre einige vergleichende Studien publiziert, die sich unter anderem mit der Erinnerungskultur in Deutschland und Frankreich (Holocaust Monuments and National Memory Cultures in France and Germany since 1989 von Peter Carrier), Japan (Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan von Ian Buruma), Italien (Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945 unter anderem von Christoph Cornelißen), oder Israel und den USA (Der Umgang mit dem Holocaust. Europa-USA-Israel von Rolf Steininger) befassen. Ebenfalls komparatistisch angelegt ist der Sammelband "Transformationen" der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989 von Bernd Faulenbach und Franz-Josef Jelich aus dem Jahr 2006, der sich mit der Veränderung von Erinnerungskulturen nach 1989/90 in Ost-, Mittel- und Westeuropa auseinandersetzt. Betrachtet werden hier die Erinnerungskulturen in Polen, Tschechien, Ungarn und Russland sowie in Frankreich, Italien und Deutschland. Weiterführende Erkenntnisse ergeben sich insbesondere dort, wo eine vergleichende Perspektive eingenommen wird, hierzu zählt die Auseinandersetzung mit der Europäisierung von Erinnerung, die Gegenüberstellung von ost- und westeuropäischen Erinnerungsräumen sowie die Untersuchung möglicher historischer "Dekontextualisierung" im Zuge der Herausbildung vereinheitlichender internationaler Erinnerungsmuster.